Die Tugend stets im Blick. Weibliche katholische Frömmigkeit im 18. Jahrhundert

Die Tugend stets im Blick. Weibliche katholische Frömmigkeit im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Norbert Jung, Hauptabteilung Kunst und Kultur/ Ordensreferendariat Erzbischöfliches Ordinariat Bamberg; Elisabeth Fischer, Universität Hamburg; Lina Peiffer, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Ort
Bamberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2019 - 11.10.2019
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Von
Chistopher Steinbiß, Geschichte, Universität Hamburg

In den letzten Jahren gab es zahlreiche Konferenzen und Workshops, die aus der Perspektive einer historisch-theologischen Geschlechterforschung weibliche Frömmigkeit, Mystik und Handlungsräume von Frauen in den Mittelpunkt der Forschung gerückt haben. Keine angemessene Berücksichtigung erfuhren allerdings die sogenannten ‚lebenden Heiligen‘ des 18. Jahrhunderts insbesondere im deutschsprachigen Raum, wo viele mystisch veranlagte, teilweise stigmatisierte Ordensfrauen und Semireligiose nachgewiesen werden können, die intensiv als lebende Heilige verehrt, jedoch nur selten offiziell kanonisiert wurden. In expliziter Anlehnung an geschlechtergeschichtliche Forschungen und an Arbeiten zur katholischen Aufklärung haben die Veranstalter/innen des Workshops sich dieser Forschungslücke angenommen.

Der Tugendbegriff fungierte dabei als methodischer Marker, um der Spiritualität von Frauen nachzuforschen. Tugenden werden als historisch wandelbar hinsichtlich ihrer Gewichtung und Semantik begriffen. So fanden diese in Form der heroischen Tugendgrade ab dem 17. Jahrhundert Eingang in Kanonisationsverfahren und wurden auf diesem Wege zu einem rechtlich-verbindlichen Gradmesser von Heiligkeit. Innerhalb der weltlichen Sphäre der frühneuzeitlichen Gesellschaft waren Tugenden in erster Linie standesspezifisch. Erst im späten 18. Jahrhundert bildete sich zunehmend ein ständeübergreifender „Geschlechtscharakter“ (Karin Hausen) heraus, der nun nach Geschlecht und nicht mehr nach sozialer Gruppe definierte, was verbindliche Handlungsmaxime war. Damit wurden die Tugenden nicht nur zu einem Ziel charakterlicher Entwicklung, sondern auch soziales Distinktionsmittel. Das Verlassen des „tugendhaften Pfades“ wurde als Sünde klassifiziert und konnte den Verlust der Ehre nach sich ziehen. Besonders Heiligkeitskonzeptionen, die an die genannten ‚lebenden Heiligen’ angelegt wurden, waren am Grad der Tugendhaftigkeit orientiert, wobei die Interpretation einzelner Verhaltensweisen unterschiedlich ausfallen konnte. Zentrales Anliegen der Veranstalter/innen war es dabei auch, die Longue durée im Blick zu behalten und Forschungsergebnisse zu weiblicher Spiritualität und Konzeptionen von Heiligkeit im 17. und 19. Jahrhundert systematisch auf ihre Gültigkeit zu prüfen, um so zeitspezifische Besonderheiten für das 18. Jahrhundert herauszuarbeiten. Ein weiteres Augenmerk lag auf dem Ende des sich wandelnden medizinischen Diskurses im 19. Jahrhundert, bei welchem Frauen als ‚hysterisch‘ gebrandmarkt wurden und ihnen so zunehmend die Relevanz ihrer praktizierten Spiritualität abgesprochen und ihre Gotteserfahrung pathologisiert wurde.

Durch die verschiedenen Forschungsausrichtungen der Vortragenden aus unterschiedlichen Disziplinen, wie beispielsweise der Theologie, der Kunst- und Kirchengeschichte gelang eine Beleuchtung des Workshop-Themas aus mehreren Blickwinkeln. JULIA BOST (Saarbrücken) führte mit ihrer Moderation durch die beiden Workshop-Tage.

Die Veranstalter/innen ELISABETH FISCHER (Hamburg), NORBERT JUNG (Bamberg) und LINA PEIFFER (Saarbrücken) eröffneten die Veranstaltung und führten in das Thema ein. Im Zentrum stand der Tugendbegriff als ambivalentes und schwer definierbares Konzept, das historischen Schwankungen unterliegt und eng in Verbindung mit historischen Geschlechtsvorstellungen zusammenhängt. Insbesondere die Oszillation zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre wurde betont, wie auch vertieft die monastischen Tugenden mit ihren Interpretationsmöglichkeiten für Frauen ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt wurden.

Im ersten Panel Sichtbarer Geist wurde ein normatives Verständnis eines Tugendbegriffs beleuchtet. Dieses Panel wurde von SUSANNE SCHULZ (Saarbrücken) eröffnet, die sich mit den Englischen Fräulein und ihrer Gründerin Mary Ward auseinandersetzte. Am Beispiel eines Textes von Marcus Fridl (1732), der Ward als Heilige stilisierte, arbeitete sie das Selbstverständnis von Anhängern der Mary Ward heraus. Sie stellte den Kanon der heroischen Tugenden als Direktive für katholische Rechtgläubigkeit heraus, wie auch dieses Werk als exemplarische Lebensanleitung für weitere Semireligiose gesehen werden kann. Schulz hob in diesem Kontext die Tugend der Keuschheit als maßgeblich innerhalb des Textes Fridls heraus.

MICHAEL PLATTIG (Münster/Rom) diskutierte historische Überlegungen um die theologische Analysetechnik der Unterscheidung der Geister, die in der frühneuzeitlichen Theologie wesentlich zum Unterscheiden göttlicher und teuflischer Kräfte und somit von Tugenden und Lastern gewesen sei. Mit einer umfassenden Betrachtung der Longue durée erarbeitete er eine These von ersten frühchristlichen Aussagen bezüglich Tugendhaftigkeit hin zu der Entwicklung der karmelitischen Mystik, insbesondere dargestellt anhand von Textauszügen von Teresa von Avila und Franz von Sales. Hierbei hielt er fest, dass im Kontext des Trienter Konzils die Verengung des in der Scholastik und Mystik noch weiten Tugendbegriffsbegriffes sukzessive zu einer Ethik erfolgte. Die Tugend sei als eine Haltung zu verstehen, welche sich im Handeln konkretisiert. Plattig sprach in diesem Kontext auch die Problematik dieser Verengung an, da mit dieser neuen ethischen Ausrichtung der Gottesbezug verschwinde und durch einen Bezug gegenüber den Mitmenschen abgelöst werde.

ANNA-LAURA DE LA IGLESIA Y NIKOLAUS (Freising/München) analysierte aus einer kunstgeschichtlichen Perspektive die Vermittlung von Tugenden in Salesianerinnen-Klöster anhand verschiedener Bildzyklen und Inschriften. Die multimediale Gestaltung des Klosterraums dieser von München aus gegründeten bayerischen Töchterklöster, half Tugendvorstellungen performativ einzuüben. Die Inschriften hatten eine sozialdisziplinierende Funktion, waren aber auch Ausdruck immerwährenden Gebets. Die Visualisierung der Ordensideale sollte helfen sich von weltlichen Bedürfnissen zu lösen, ohne ausschließlich in Askese zu verfallen. Dies machte De la Iglesia u.a. am Bildmotiv der gekreuzigten Nonne fest, das innerhalb des Salesianerinnenordens tradiert wurde, sich jedoch auch in anderen Orden finden lasse.

Im folgenden Panel Unsichtbarer Körper ging es um die Habitualisierung räumlich-sozialer Aspekte bezüglich einzelner Tugenden im Klosteralltag. SARAH ZEITLER (Berlin) widmete sich mit einem sinnesgeschichtlichen Ansatz den Möglichkeiten und Grenzen visuell-sensorischer Wahrnehmungen in Frauenklöstern. Ausgehend von einem eher normativen Klausurbegriff betrachtete Zeitler das Nürnberger Klara-Kloster insbesondere unter architektonischen Gesichtspunkten und Ordensstatuten. Sie ging insbesondere auf Aspekte der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ein und betrachtete die Klosterfrau zum einen als sehendes Subjekt, zum anderen als gesehenes Objekt. Abschließend diskutierte Zeitler die Konsequenzen dieses Bruchs physischer und spiritueller Barrieren durch die Reformation und die tridentinischen Reformen.

Zum Abschluss des ersten Veranstaltungstages wurden in einer Diskussionswerkstatt unter der Leitung von ANNE CONRAD (Saarbrücken) und XENIA VON TIPPELSKIRCH (Berlin) erste Ergebnisse diskutiert und die Vorträge des Tages reflektiert.

Den zweiten Veranstaltungstag eröffnete das Panel Die Berufung leben, welches die Adaption gesellschaftlicher Tugendvorstellungen durch Klosterfrauen aufzeigte. CHRISTINE SCHNEIDER (Wien) betrachtete klösterliche Nekrologe als Erbauungsliteratur für Klosterfrauen am Beispiel des Nekrologs im Wiener Ursulinenkloster. Sie stellte Motive theologischer, weiblicher und ständischer Tugenden vor, die die Verfasserin Klosterfrauen zu- oder absprach. Hieran diskutierte Schneider, inwieweit bestimmte Normen von Nonnen adaptiert wurden und in einen selbstauferlegten Tugendkanon aufgenommen wurden. Es zeigte sich, dass der Tugendkanon hier weniger spezifisch theologisch, sondern stark lebenspraktisch ausgerichtet war. Schneider erklärte diese Tatsache mit dem Rückgang adliger Klosterfrauen und der Durchdringung einer bürgerlichen Mentalität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gehorsam, Bereitschaft und Unterordnung seien zentrale Werte dieser Geisteshaltung, die sich auch im Kloster wiederfinden lassen.

Es folgte Norbert Jung mit der Vorstellung einer zuvor nicht edierten Handschrift. In diesen „Grundsätzen eines geistlichen Lebens“ wurden Regeln für das ideale Leben einer dominikanischen Novizin verzeichnet, doch ließ die Tugendlehre auch jesuitische Einflüsse erkennen. Jung rekonstruierte die Entstehungsumstände des Textes auch angesichts der monastischen Vielfalt in Bamberg. Wenig überraschend kristallisierte sich der Gehorsam als zentrale Tugend heraus, doch lag die Besonderheit der Quelle für Jung in einer namentlichen Ansprache im Text, weswegen Jung die Tugendlehre in Verbindung mit Maria Columba Schonath OP brachte, auf die in dem Vortrag von Fischer näher eingegangen wurde.

Das letzte Panel der Veranstaltung mit dem Titel Als Heilige leben widmete sich den genannten lebenden Heiligen anhand zweier Beispiele: LINA PEIFFER betrachtete mit Maria Anna Lindmayr eine weitere Mystikerin und Karmeliterinnenterziarin. Ihr Fokus lag auf dem durch die Betrachtung der Biografie Lindmayrs deutlich werdenden Streben nach Tugendhaftigkeit. Anhand von Beispielen aus verschiedenen Lebensphasen Lindmayrs, wie der frühen Kindheit, der Jugend und dem Leben als Terziarin wurde deutlich, wie sich das Tugendverständnis der Mystikerin veränderte und auch welche Rolle dem Einüben der Tugenden zukam. Das Üben der Tugenden als von den Beichtvätern unterstützter Akt wurde hierbei ebenso deutlich gemacht, wie auch die Rolle der Erbauungsliteratur beim Tugendstreben angesprochen wurde. In ihrem Fazit wies sie darauf hin, dass die Rolle Lindmayrs als Rezipientin der Vorstellung von Tugend auch zu einer Akteurin in diesem Bereich wurde, indem sie andere Terziarinnen unterrichtete und selbst in einer „Tugendschul“ ihre Vorstellungen notierte.

Zuletzt widmete ELISABETH FISCHER sich der dominikanischen Mystikerin Columba Schonath. Sie legte dar, wie die beteiligten Kleriker im Fall Schonath die in Kanonisationsverfahren besonders bedeutsamen Heroischen Tugendgrade prüften und zu dem Schluss kamen, dass kein Zeichen einer besonderen Gotteserwählung vorliege. Für diese Prüfung hätten die Akteure die Unterscheidung der Geister als Analysetechnik genutzt. Fischer verdeutlichte dies an drei konkreten Prüfungspraktiken. Als Fazit konstatierte sie, dass die Prüfung auf Heroische Tugendgrade einen deutlich geringeren Stellenwert gegenüber Prüfungstechniken auf körperliche Zeichen von Heiligkeit einnahm. Diesen Befund kontextualisierte sie mit Konzeptionen weiblicher Heiligkeit im 19. Jahrhundert.

Besonders in der abschließenden Diskussionsrunde wurde der allgemein große Forschungsbedarf deutlich, der für weibliche Frömmigkeit des 18. Jahrhunderts insbesondere im deutschsprachigen Raum noch zu konstatieren ist und worauf kürzlich auch Ulrich Lehner aufmerksam gemacht hat.1 Darüber hinaus trat das Potential zu Tage, sich religiöser Lebenswelten mittels eines Tugendbegriffs zu nähern, was in Bezug auf u.a. Mutterschaft und Frauenbildung Claudia Opitz, Ulrike Weckel und Elke Kleinau vor einigen Jahren unternommen haben.2 Ferner wurden Gründe für das Auftreten von lebenden Heiligen diskutiert, sowie spezielle kontextgebundene Merkmale dieser Personen näher erörtert. Insbesondere wurde hier angesprochen, inwiefern lebende Heilige aus dem Italien des 17. Jahrhunderts mit ihren Attributen auf die vorgestellten Beispiele des deutschsprachigen Raumes im 18. Jahrhundert übertragbar sein könnten.

Konferenzübersicht:

Erstes Panel: „Sichtbarer Geist…“

Susanne Schulz (Saarbrücken): „Englische Tugend-Schul Mariae“ des Marcus Fridl (1732) – Anleitung zu einem tugendsamen gegenreformatorisch katholischen Leben

Michael Plattig (Münster/Rom): „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Mt 7,16). Die Tugenden als sichtbarer Ausdruck des Wirkens des Geistes Gottes in der Tradition der Unterscheidung der Geister

Anna-Laura De la Iglesia y Nikolaus (Freising/München): Dieses Kreuz ist nicht für dich! Klösterliche Ikonografie als Tugendspiegel salesianischer Frömmigkeit

Zweites Panel: „…unsichtbarer Körper“

Sarah Zeitler (Berlin): Klosterfrauen im Blick. Monastische Tugenden zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Diskussionswerkstatt

u.a. mit Anne Conrad (Saarbrücken) und Xenia von Tippelskirch (Berlin)

Drittes Panel: „Die Berufung leben“

Christine Schneider (Wien): Ordensleben zwischen Anspruch und Realität – der Nekrolog des Wiener Ursulinenkonvents

Karen Nolte (Heidelberg): Eine „heilige Schar einheimischer Missionarinnen“: Diakonissen in der Gemeindepflege im 19. Jahrhundert

Norbert Jung (Bamberg): „Grundsätze eines Geistlichen Lebens“. Eine Tugendlehre für angehende Klosterfrauen aus dem 18. Jahrhundert

Viertes Panel: „Als Heilige leben“

Elisabeth Fischer (Hamburg): „[…] indem sie ihre ganze Konzentration auf diese außergewöhnlichen Dinge richten, die nichts zur Vervollkommnung der Tugenden beitragen“. Tugend als Gradmesser von Heiligkeit bei Columba Schonath OP (1730–1787)

Lina Peiffer (Saarbrücken): „Alles, was eitel war, wurde mir bitter.“ Tugendhaftigkeit als Weg zur Heiligkeit in der Biografie Maria Anna Lindmayrs (1657–1726)

Anmerkungen:
1 Vgl. Ulrich L. Lehner (Hrsg.), Women, Enlightenment, and Catholicism. A Transnational Biographical History, London 2018.
2 Vgl. Claudia Opitz-Belakhal u.a. (Hrsg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000.


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